Dieses Interview fand im Vorfeld unseres ersten Events im Forum Subscription Economy und Sharing Economy am 22.6.2021 statt. Nachdem das neue SIBB-Forum im April 2021 gestartet ist, beleuchten wir zum Auftakt am 22. die Möglichkeiten der Shared Mobility in Bezug auf Reisen - ob innerhalb der Stadt, mit Boot oder Flugzeug. Unsere Expert*innen stellen den Status quo und die Zukunft der verschiedenen Transportmedien vor und besprechen die Themen im Anschluss im Rahmen einer Podiumsdiskussion. Jetzt hier anmelden und nicht verpassen: https://www.eventbrite.de/e/game-changers-in-shared-mobility-tickets-152080562055
Jerrit Siegmund ist Managing Director und COO der Firma OKAI und Sprecher des Forums Subscription Economy und Sharing Economy beim SIBB. OKAI als einer der weltweit führenden Anbieter von Micromobilty-Lösungen steckt in Berlin hinter E-Scootern und E-Bikes der Marken Bird, Voi und Tier. Im Interview mit René Ebert sprach Jerrit Siegmund über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Branche, blockierende Gesetze und die verpasste Digitalisierung in Deutschland.
René Ebert: Für echte Neulinge im Thema: Was ist die Sharing Economy und wo liegt der Unterschied zur Subscription Economy?
Sharing Economy bedeutet erst einmal nur, dass ich ein geteiltes Objekt gemeinsam mit anderen nutze. Gleichzeitig ist die Sharing Economy die Grundlage der Subsciption Economy. Der größte Unterschied ist eigentlich: Beim Sharing lege ich mich erstmal nicht fest, sondern nutze das Objekt nur dann, wenn ich es brauche. Bei der Subsciption Economy ist das Gegenteil der Fall: Ich entscheide mich dafür, eine bestimmte Sache regelmäßig zu nutzen und zahle einen Minimumbetrag – ohne bei jeder Nutzung einzeln zahlen zu müssen.
René Ebert: Das Coronavirus war und ist für die Sharing Economy erst mal ein schwerer Schlag. Hat das Teilen jetzt schon ein Ende oder stehen wir immer noch am Anfang eines völlig neuen Zeitalters?
Ich weiß wirklich nicht, woher dieses Gerücht kommt. Das Coronavirus war das beste, was der Sharing Economy passieren konnte! 2020 war für die meisten das stärkste Jahr überhaupt. Die Unternehmen, die nicht nur Touristen, sondern vor allem Einheimische oder Berufspendler anziehen, hatten entscheidende Vorteile. Weil alle Leute aus den öffentlichen Verkehrsmitteln rauswollten. Im Bereich der Verkaufszahlen von Fahrzeugen und in den Umsätzen der Sharing Unternehmen selbst gab es vielleicht ein Zweimonatstief – aber danach haben die meisten die besten Umsätze aller Zeiten geschrieben. Also dieses angebliche Loch, durch die Corona-Pandemie… gab es tatsächlich nicht. Im Gegenteil: Die Sharing Economy und vor allem die Subsciption Economy sind ganz klare Corona-Gewinner.
René Ebert: Das heißt eigentlich war die Krise ein großer Boost für die Branche?
Definitiv, ganz klar. Für die Fahrräder zum Beispiel war es ein gigantischer Boost. Der Fahrradmarkt ist auf einem Niveau, auf dem er noch niemals zuvor war. Und das auch zum allerersten Mal in den USA, wo das Fahrradfahren vorher weniger präsent war.
René Ebert: Das heißt die Branche hat es innerhalb kürzester Zeit geschafft, global neue Märkte zu erschließen und sich dort komplett neu aufzustellen?
Ja genau, man merkt auch jetzt noch die Nachwehen. Denn die Nachfrage am Markt ist deutlich schneller gestiegen, als der Markt überhaupt hinterherkommt. Es gibt zum Beispiel Fahrradhersteller, die Ihnen frühestens im Spätsommer 2022 Ihr Fahrrad liefern können, weil die Fahrradersatzteile weltweit einfach ausverkauft sind. Hinzu kommt, dass aktuell auch viele andere Dinge auf dem Weltmarkt sehr knapp sind. Das sind zum Beispiel Computerchips, die natürlich heutzutage für die meisten elektronischen Fahrzeuge benötigt werden. Dann haben wir eine Litiumzellenknappheit, die jetzt grade sehr groß ist, weil Apple allein ein Drittel der gesamten Akkukapazitäten aufkauft.
René Ebert: Was haben die großen Player der Sharing Economy denn im letzten Jahr konkret dazugelernt?
Ich glaube das letzte Jahr hat zum ersten Mal die Weichen gestellt in Richtung Professionalisierung der Branche. Zulassungen, Sicherheitsstandards, da gibt es aktuell ein großes Umdenken. Insbesondere weil im letzten Jahr die großen Kommunen und Länder angefangen haben, echte Regelwerke einzuführen. Auch die Fahrzeuge haben in den letzten zwei Jahren noch mal einen großen Schritt nach vorne gemacht. Die ersten Scooter-Modelle von OKAI sind kaum mehr zu vergleichen mit dem, was wir heute auf dem Markt haben.
Zusätzlich sind überall auf der Welt Bike-Landes aufgetaucht – die wären ohne Corona definitiv nicht möglich gewesen. Die Städte haben sich vor allem deshalb getraut, weil der Autoverkehr für einige Monate stark gesunken war. Das ist eine sehr positive Entwicklung, denn die Leute sehen jetzt, dass es funktioniert. Sobald eine sichere Radinfrastruktur da ist, nutzen die Menschen diese Option auch viel mehr.
René Ebert: Bike-Sharing, Car Sharing und E-Scooter gehören ja schon fast zu den alten Eisen. Welche ganz großen Innovationen sehen Sie denn aktuell und zukünftig in der Branche?
Also die riesigen Innovationsschritte werden erst dann kommen, wenn wir flächendeckend fahrerlose Shuttlebusse haben. Das wird aber noch ein paar Jahre dauern. In Deutschland wurde dafür grade die gesetzliche Grundlage geschaffen. Die E-Scooter waren ein erster Schritt, das muss aber noch viel weiter gehen. Wir müssen eine Infrastruktur schaffen, in der alles verkehren kann: vom kleinen Wohnmobil über das Einsitzer-Elektroauto bis hin zu autonomen Shuttlebussen. Und das alles am besten möglichst berührungsfrei, also mit einzelnen Spuren für alle. Oder man schafft ein einheitliches Tempo für alle, dann hätten wir auch schon einen sehr viel flüssigeren Verkehr.
Na klar, wir können immer mehr Technologie in den Mark reinbringen – aber wenn der Gesetzgeber nicht mehr hinterher kommt und wenn die Infrastruktur nicht daran angepasst wird, dann kommen wir erst mal nicht weiter.
René Ebert: Sie dürfen sich was wünschen: Was kann (und muss) die deutsche Politik jetzt tun, um der Sharing Economy einen Schub zu geben?
Die Sharing Economy muss zum ersten Mal richtig gefördert werden. Im Moment ist es so, dass ihr vom Gesetzgeber – speziell von den Kommunen – immer wieder Steine in den Weg gelegt werden. Also es kommt zum Beispiel ein neues regulierendes Gesetz – auf der einen Seite ist es gut, weil es reguliert. Auf der anderen Seite ist das Gesetz dafür da, die Firmen wieder aus dem Markt rauszudrücken, weil Lobbyverbände aus der Automobilindustrie zu stark mitreden. Da muss neuer Mut her. Ich denke aber nicht, dass das im Moment möglich ist. Dazu muss es erst eine neue Regierung geben, weil die alte natürlich nach so vielen Jahren festgefahren ist. Und dann müsste meiner Meinung nach viel mehr auf Bundesebene umgesetzt und den Kommunen etwas die Hoheit genommen werden. Das Problem daran sehen wir nämlich in Berlin: Jeder Bezirk kocht sein eigenes Süppchen.
Ja und dann wüsche ich mir viel mehr Mut, auch mal etwas auszuprobieren. Wir tendieren in Deutschland dazu, erst mal alles perfekt durchzuorganisieren, zu genehmigen und zu prüfen – und dann muss von der TÜV-Seite noch ein Stempel oben drauf. Die Regierung müsste dafür sorgen, dass viel mehr probiert wird. Sowas kann ja auch zeitlich begrenzt sein. Aber es müssten viel mehr Experimente mit neuen Mobilitätsformen genehmigt und durchgeführt werden.
René Ebert: Können wir hier was aus dem Ausland lernen oder gehört Deutschland dennoch zu den Vorreitern in der Branche?
Deutschland gehört schon lange nicht mehr zu den Vorreitern, leider. Was wir können ist Regulierung – und das ist nicht nur negativ gemeint. Die Scooter zum Beispiel hat man relativ unreguliert in den Markt gelassen, und jetzt werden sie einreguliert. Das ist der richtige Ansatz und den bräuchten wir viel öfter. Und ich kann es nur immer wieder betonen: Wir müssen den Autos Platz und Rechte wegnehmen oder anderen Fahrzeugen dieselben Rechte zugestehen. Das ist definitiv möglich, denn wir haben eine extrem gut ausgebaute Infrastruktur, was den Straßenbau angeht. Wir müssen diese Infrastruktur nur nutzen, sie für neue Verkehrsregeln öffnen und anpassen. Dann haben wir noch die Chancen, ganz schnell wieder zum Vorreiter zu werden.
René Ebert: Es wird also auf jeden Fall zulasten der Autos gehen? Oder können wir auch gemeinsame Wege schaffen?
Es wird zulasten der privat genutzten Fahrzeuge im innerstädtischen Bereich gehen, ja. Benzinpreiserhöhung ist aber der völlig falsche Weg. Es geht auch nicht darum, einfach nur Straßen wegzunehmen und dann zu erwarten, dass die Leute auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, wenn diese nicht im gleichen Zuge erweitert werden. Das ist das, was in Berlin passiert. Sie haben überall tolle Radspuren die leer sind und die Autos stauen sich in den Seitenstraßen. Das ist sehr kurzsichtig und auch nicht die Lösung. Man muss Anreize schaffen, nicht mehr zu fahren, anstatt zu bestrafen. Wir haben die Infrastruktur, wir haben genug Platz da – wir müssen den Platz nur gleichmäßig für alle aufteilen. Und wenn ich in Berlin im inneren Ring wohne und keinen eigenen Parkplatz habe … habe ich hoffentlich in fünf Jahren kein Recht mehr, auf öffentlichem Grund zu parken. Da bin ich schon dafür. Entweder habe ich einen privaten Parkplatz oder ich nutze Carsharing, fahre mit dem Taxi, Shuttle oder dem öffentlichen Nahverkehr in die Stadt hinein.
Die Alternative muss allerdings genauso praktisch und günstig sein wie das Auto. Weil einfach viele Leute im Innenstadtbereich auf ein Auto angewiesen sind. Für Familien mit mehreren Kindern ist Carsharing aktuell keine Alternative, weil das noch sehr teuer ist. Also auch der soziale Ausgleich muss gut bedacht werden, der kommt im Moment noch deutlich. Es gibt Menschen, die für ihre Arbeit viel herumschleppen müssen. Unsere Ansätze für geteilte Mobilität sind schon gut, aber sie klammern noch immer einen Großteil der Gesellschaft aus.
René Ebert: Konkret gefragt: Von welchem Land können wir lernen?
Natürlich aus den vielzitierten Niederlanden. Jetzt kann man sagen: wir sind nicht die Niederlande, das ist aber Bullshit. Die haben auch große Städte und die hatten auch das gleiche Autoproblem. Sie haben neue Wege einfach radikal umgesetzt. Dort können wir eine Menge lernen, vor allem was die Fahrradinfrastruktur angeht. Es gibt auch in einigen Städten der USA gute Ansätze, in Dänemark oder in der Schweiz.
Ich glaube das große Problem bei uns ist: Es gibt wahnsinnig innovative Unternehmen, die gute Ideen haben. Die meisten setzen es dann aber aufgrund der starren Gesetzeslage, der vielen Vorgaben und des blockierenden Föderalismus im Ausland um. Noch dazu kommt die komplett verpasste Digitalisierung bei uns. Ich war kürzlich in Costa Rica, mitten im Dschungel. Ich komme in ein kleines Dorf und habe dort 5G. Wir kriegen es hier noch nicht mal hin, dass wir flächendeckend DSL verbreiten. Da haben wir noch wahnsinnig viel aufzuholen.
René Ebert: Berlin gilt ja landläufig als besonders hipp und oben auf in Sachen Trends. Wie steht es denn um die Sharing Economy in der Region Berlin-Brandenburg? Haben wir Innovationspotential?
Wir haben gigantisches Innovationspotential! Was das Produktangebot angeht, ist Berlin sehr weit. Viele Ideen kommen aus der Hauptstadt. Aber die technische Umsetzung zum Beispiel ist in München deutlich besser, weil Innovationsvorhaben dort gefördert werden. Die technische Universität vor Ort integriert das ganz anders. In Berlin haben wir natürlich eine Sondersituation, durch die vielen Bezirke. Es gibt kein echtes, stadtübergreifendes Verkehrskonzept. Berlin bringt also viele Innovationen hervor, kann sie aber selbst wahnsinnig schwer nutzen.
René Ebert: Wer sind denn die aktuell großen Player unserer Region?
Im Carsharing ist das natürlich die Share Now Gruppe, die den Markt in Berlin total beherrscht. Dazu kommen einige kleinere Carsharing-Anbieter. Im Mikromobilitätsbereich sind das die ganzen internationalen Anbieter wie Tier, Bird und Line, seit kurzem auch noch Voi und Bolt. Dann haben wir natürlich im Taxibereich die großen wie Uber. Aber im Bereich des Massenpersonentransports fehlt einfach noch die Innovation. Da muss am meisten getan werden. Da gab es bisher nur den BerlKönig.
René Ebert: Woran liegt das?
Dem steht das alte Taxigesetz, das Personenbeförderungsgesetz massiv im Weg. Das hat mal sehr viel Sinn ergeben, tut es heute aber einfach überhaupt nicht mehr. Da steckt eine extrem starke Lobby dahinter. Leider verstehen die Taxi-Unternehmen nicht, dass ihnen die Öffnung des Marktes ebenfalls zugute kommt, weil man das Taxifahren einem viel größeren Publikum öffnet. Taxifahren ist ja immer noch eine relativ teure Angelegenheit. Ich habe neulich 85 Euro für eine Flughafenfahrt bezahlt. Da ist die Taxifahrt teurer als der Flug. Das ist also überhaupt kein Massenverkehrsmittel.
René Ebert: Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Was bedeutet die Sharing Economy für die Entwicklung unserer Gesellschaft?
Die Sharing Economy bedeutet eine Demokratisierung von Mobilität – wenn sie richtig durchgeführt wird und alle gesellschaftlichen, finanziellen und sozialen Aspekte integriert. Weil sie jedem die Möglichkeit gibt, gleichermaßen an allen Verkehrsformen teilzunehmen. Wenn ich das über die Subscription Economy umsetzen kann, kann ich nahezu alle Verkehrsmittel jedem zur Verfügung stellen. Und zwar genau dann, wenn man sie braucht. Es gibt viele Menschen, die sich kein Auto leisten können, aber öfter eins brauchen. Gleichzeitig kann ich ein Fahrrad nutzen, wenn ich eins brauche, einen Transporter oder eben auch mal ein Taxi, wenn ich nicht selbst fahren möchte. Und die wenigsten können es sich leisten, alle Fahrzeugtypen selbst zu halten.
René Ebert: Und um das zu schaffen, fehlen uns im Prinzip nur noch ein bisschen Mut und die gesetzlichen Grundlagen, die auch das Bigger Picture für die Zukunft mit einbeziehen?
Ja; wir brauchen natürlich eine sehr gute Balance, wir müssen genug Freiraum lassen. Die Innovation kommt nun mal aus der Wirtschaft und definitiv nicht vom Staat, schon lange nicht mehr. Die wirtschaftlichen Anreize für Innovationen müssen groß genug sein und gleichzeitig muss der Rahmen so gesteckt sein, dass sie nachher auch für alle zugänglich sind.
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